DER AUFRUF
Wer trägt das Risiko eines Atomunfalls? Sie!
Bei einem Atomunfall ist Ihre Gesundheit in höchstem Maße gefährdet. Weil die Betreibergesellschaften absolut unzureichend gegen eine Atomkatastrophe versichert sind, tragen Sie als Bürger dieses Landes auch das volle wirtschaftliche Risiko für alle Folgeschäden selbst:
- Verstrahlung und Verlust von Hab und Gut, von Ihrer Wohnung, von Haus- und Grundbesitz
- Untergang von Betrieben, Verlust Ihres Arbeitsplatzes
- Ganze Regionen werden unbewohnbar
Der Gesetzgeber verlangt für den Fall einer Katastrophe in einem Atomkraftwerk lediglich eine Schadensdeckung bis zu 2,5 Milliarden Euro. Aber dieser Betrag deckt weniger als 0,1% der möglichen Sach- und Vermögensschäden ab. Die Betreiber sind also gegen einen Großschaden total unterversichert und gehen im Fall einer Atomkatastrophe sofort in Konkurs.
Das volle Risiko eines Atomunfalls tragen Sie, nicht der Betreiber des Atomkraftwerks!
Dass Menschen und deutsche Spitzentechnologie versagen können, hat u.a. die ICE-Katastrophe von Eschede gezeigt. Für jedes Auto und jeden Betrieb müssen mögliche Sach- und Personenschäden durch eine Haftpflichtversicherung voll abgedeckt werden. Warum gilt das nicht für Atomkraftwerke?
Wie groß das Risiko tatsächlich ist, weiß man seit der Tschernobyl-Katastrophe: Die Fläche dauerhafter Evakuierung kann 10.000 km2 groß sein und mehr als 200 km weit reichen. Bei der dichten Besiedlung unseres Landes sind dann mehrere Millionen Bürger betroffen; sogar die notwendige ärztliche Versorgung wäre ungewiß.
Deshalb richten wir an den Deutschen Bundestag und die Bundesregierung die Forderung, unverzüglich als Risikovorsorge für den Betrieb von Atomkraftwerken eine Betriebshaftpflichtversicherung mit unbegrenzter Deckung für alle Gesundheits-, Sach- und Vermögensschäden vorzuschreiben.
http://www.atomhaftpflicht.de/
Strahlende Lügen
Die Mythen der Atomindustrie
<span>Foto: <a href="http://www.flickr.com/photos/argonne/3954062594/" target="_blank">Argonne National Library</a></span> Foto: Argonne National Library
von Gerd Rosenkranz
Zunehmende Ölknappheit, der globale Ressourcenhunger und ein sich beschleunigender Klimawandel lassen seit geraumer Zeit eine Renaissance der Atomkraft befürchten oder erhoffen – je nach Sichtweise und Standpunkt. Und zwar nicht nur in China oder Indien, wo in den vergangenen Jahren einige neue Atomkraftwerke in Betrieb genommen wurden, sondern auch in unseren Breiten, wo Atomkraft von interessierter Seite als wirksames Mittel gegen den Klimakollaps propagiert wird. Dass gleichzeitig der Widerstand aus der Bevölkerung abzuflauen schien, ließ bei den Kernkraftwerks-Betreibern neuen Optimismus reifen. Einige propagieren Atomstrom schon als grüne Zukunftsenergie. Doch offensichtlich sind die Hoffnungen verfrüht. Die jüngsten massiven Proteste gegen die Castor-Transporte haben überraschend kraftvoll den Beweis dafür erbracht, dass der Widerwille in der Bevölkerung gegen die Atomkraft ungebrochen ist. Ein Widerwille, der die Fakten auf seiner Seite hat. Denn bei eingehender Prüfung erweisen sich die angeblichen Vorteile der Atomenergie sämtlich als Chimären.
Tatsächlich ist der Konflikt um die Atomenergie fast so alt wie ihre kommerzielle Nutzung. Die frühen Blütenträume ihrer Verfechter sind verflogen, die hohen Risiken geblieben. Die Klimaerwärmung und die Endlichkeit fossiler Brennstoffe können nicht die großen Sicherheitsprobleme der Atomenergie verdrängen. Der Einsatz der Atomenergie ist nicht zukunftsfähig, weil die nuklearen Spaltstoffe ebenso endlich sind wie die fossilen Brennstoffe. Und weil die Zeiträume, die ihre radioaktive Hinterlassenschaft von der Biosphäre ferngehalten werden muss, so lang sind, dass sie jenseits der menschlichen Vorstellungskraft liegen.
Atomenergie ist aber auch finanztechnisch eine Hochrisikotechnologie. Ohne staatliche Subventionen hat sie in einem marktwirtschaftlichen Umfeld keine Chance. Billige Atomkraft ist daher ein Mythos, zu viele Faktoren bleiben aus der Kostenrechnung ausgeklammert. Vom Neubau atomarer Reaktoren ist deshalb in Deutschland momentan allenfalls am Rande die Rede. Dagegen sind Laufzeitverlängerungen alter Reaktoren ökonomisch hochattraktiv – gleichzeitig erhöhen sie das Risiko eines schweren Unfalls überproportional und missachten den von den Atomkraftwerksbetreibern selbst mit der früheren rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten und dann gesetzlich fixierten Ausstieg. „Beide Seiten“, heißt es im auch von den Konzernchefs unterzeichneten Ausstiegsvertrag vom 14. Juni 2000, „werden ihren Teil dazu beitragen, dass der Inhalt dieser Vereinbarung dauerhaft umgesetzt wird.“
Etikettenschwindel „Brennstoffkreislauf“
Bereits der Begriff des atomaren „Brennstoffkreislaufs“ gehört zu jenen erstaunlichen Wortschöpfungen, die sich über Jahrzehnte durchgesetzt haben, obwohl sie, wörtlich genommen, andauernd von der Realität widerlegt werden. Der Mythos vom nuklearen Kreislauf rührte vom frühen Traum der Kerntechniker her, man könne das erzeugte spaltbare Plutonium in Wiederaufarbeitungsanlagen abtrennen und dann in Schnellen Brutreaktoren – einem Perpetuum Mobile gleich – aus nicht-spaltbarem Uran (U-238) immer aufs Neue Plutonium (Pu-239) für weitere Brüterkraftwerke erzeugen. Ein gigantischer industrieller Kreislauf sollte so entstehen. Doch der Plutoniumpfad der Kerntechnik wurde zum vielleicht größten Fiasko der Wirtschaftsgeschichte. Überteuert, technologisch unausgereift, sicherheitstechnisch noch umstrittener als konventionelle Atomkraft, besonders anfällig für die militärische Zweckentfremdung setzte sich die Brüter-Technologie bis heute nirgendwo durch. Weil stets nur ein vergleichsweise geringer Anteil des auf der Welt in kommerziellen Kraftwerken erzeugten hochradioaktiven Atommülls wiederaufgearbeitet wird, ist vom atomaren Brennstoffkreislauf nur der Name geblieben. In der realen Welt ist dieser Kreis offen.
Atomkraftwerke erzeugen neben Strom vor allem hoch, mittel und schwach radioaktive Abfälle, die darüber hinaus häufig extrem giftig sind. Sie müssen für ungeheure Zeiträume sicher endgelagert werden. So verliert das Plutonium-Isotop Pu-239 seine halbe Radioaktivität erst nach 24 110 Jahren. Bis heute gibt es auf der Welt allerdings noch kein einziges genehmigtes und betriebsbereites Endlager für hoch radioaktive Abfälle – ein Umstand, der das Bild vom atomaren Flugzeug populär machte, das gestartet ist, ohne dass sich irgendjemand Gedanken über die Landebahn gemacht hätte. Wie unbekümmert das Atommüllproblem anfangs angegangen wurde, belegt eine Äußerung Carl Friedrich von Weizsäckers aus dem Jahr 1969. Damals erklärte der Physiker und Philosoph zur Beseitigung atomarer Abfälle: „Das ist überhaupt kein Problem […]. Ich habe mir sagen lassen, dass der gesamte Atommüll, der in der Bundesrepublik im Jahr 2000 vorhanden sein wird, in einen Kasten hineinginge, der ein Kubus von 20 Metern Seitenlänge ist.“1 Die Frage, ob radioaktiver Müll überhaupt für hunderttausende oder gar Millionen von Jahren sicher von der Biosphäre ferngehalten werden kann, ist letztlich eine philosophische. Sie sprengt das menschliche Vorstellungsvermögen. Man mache sich bewusst: Die Zeit der Pyramiden liegt gerade einmal 5000 Jahre zurück. Hätten die Neandertaler die Atomenergie genutzt, müssten wir heute ihre Abfälle bewachen.
Erst allmählich und zögerlich setzt sich in den größten Kernenergieländern die Erkenntnis durch, dass die Auswahl eines Endlagerstandorts nicht nur ein technisch-wissenschaftliches Problem darstellt. Keines der nationalen Standort-Auswahlverfahren, die zumeist in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gestartet wurden, hat bisher zu einem genehmigten Endlager geführt. Der Grund ist nicht nur technischer Natur: Viel zu lange wurden gesellschaftliche Widerstände, demokratische Partizipation und Transparenz bei der Standortwahl missachtet oder verweigert. Die Lagerstätte in Morsleben konnte in den 90ern nur deshalb in Betrieb genommen werden, weil sich die damalige Umweltministerin Angela Merkel auf DDR-Rechtssprechung berief, das heißt die Genehmigung der DDR-Behörden einfach auf die Bundesrepublik übertrug.
Der angebliche Brennstoffkreislauf ist jedoch nicht nur an seinem hinteren Ende offen. Er erwies sich von Anbeginn an auch an seinem Startpunkt als hoch problematisch. Der Uranbergbau forderte vor allem anfangs immense Opfer. Große Mengen radioaktiver Nuklide gelangten in die Biosphäre. Bei einer Fortsetzung oder gar erheblichen Ausweitung des Kernenergieeinsatzes werden die gesundheitlichen und ökologischen Folgekosten des Uranbergbaus voraussichtlich wieder erheblich zunehmen.
Rücksichten auf die gesundheitlichen Folgen für die Minenarbeiter oder gar die Umwelt spielten unter den Bedingungen der Anfangszeit nur eine untergeordnete Rolle. Die aufgeschlossenen Uranerze enthielten vergleichsweise hohe Konzentrationen des radioaktiven Gases Radon und anderer strahlender Nuklide, die beim Abbau freigesetzt wurden. Die Folge: Schwere radiologische Dauerbelastungen nicht nur der Bergleute selbst, sondern auch der Umgebung und der dort lebenden Menschen. Tausende Bergarbeiter starben nach langjähriger Schwerstarbeit in den Stollen später qualvoll an Lungenkrebs. Betroffen waren insbesondere Kumpel der ostdeutschen „Wismut“, wo zeitweise über 100 000 Menschen beschäftigt waren.
Mit dem Ende des Kalten Krieges änderten sich die Verhältnisse grundlegend. Nicht mehr benötigte Lagerbestände der USA und aus der früheren Sowjetunion wurden in den zivilen Spaltstoffmarkt eingespeist. Außerdem standen wegen der Erfolge bei der atomaren Abrüstung bald große Mengen an Bombenuran mit hohem Spaltstoffanteil aus eingemotteten sowjetischen und amerikanischen Atomwaffen zur Verfügung. Die Folge war und ist das vielleicht umfassendste, jemals umgesetzte Konversionsprogramm von Kriegswaffen in den zivilen Wirtschaftskreislauf. Infolge dieser völlig neuen Situation am Uranmarkt brach der Weltmarktpreis für Reaktoruran massiv ein und verharrte bis 2004 auf niedrigem Niveau. Nur noch Lagerstätten mit vergleichsweise hohen Urankonzentrationen überlebten. Bis ins Jahr 2005 hinein stammte fast die Hälfte des weltweit in Atomkraftwerken gespaltenen Urans nicht mehr aus angereichertem, „frischem“ Uranerz, sondern aus der kriegerischen Hinterlassenschaft der Supermächte. Andererseits ist absehbar, dass die militärischen Uranbestände aus der Zeit des Kalten Krieges bald aufgebraucht sein werden. In dieser Erwartung und wegen der – verfrühten – Hoffnung auf eine globale Renaissance der Atomenergie gab es zwischen 2004 und 2006 eine Versechsfachung der Uranpreise, ehe sie seit Mitte 2007 erneut abstürzten.
Neben der Wiedereröffnung eingemotteter Bergwerke müssten bei einem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke auf heutigem Niveau oder gar einem Ausbau des globalen Reaktorarsenals neue, immer weniger ertragreiche Lagerstätten aufgeschlossen werden, die tendenziell immer weniger Uran und immer mehr prekären Abraum mit einem überdurchschnittlichen Gehalt an radioaktiven Isotopen produzieren. Die Industrie benötigt für eine Ausweitung ihrer Uran-Förderkapazitäten Zeit, die sie im Falle eines raschen Ausbaus der weltweiten Atomenergiekapazität nicht hätte. Weil die Explorationsanstrengungen – ähnlich wie in Zeiten billigen Öls – auch beim Uran in Folge des militärischen Überschuss-Angebots massiv heruntergefahren wurden, existieren heute nur relativ wenige bekannte Lagerstätten. Außerdem vergehen zwischen dem Auffinden eines Uranlagers und dem Beginn der Förderung im Durchschnitt noch einmal mindestens zehn Jahre. Die wichtigsten Atomkraft-Nationen verfügen entweder über so gut wie gar keine eigene Uranförderung (Frankreich, Japan, Deutschland, Südkorea, Großbritannien, Schweden, Spanien) oder über erheblich weniger Kapazitäten als sie für den dauerhaften Betrieb ihrer Reaktoren benötigen (USA, Russland).
Insbesondere Russland läuft Gefahr, schon in 15 Jahren in eine ernste Uran-Versorgungskrise zu rutschen. Ein Umstand, der auf die AKW-Betreiber in der EU ausstrahlen wird, die derzeit rund ein Drittel ihres Brennstoffs von dort beziehen. Neben Russland könnten auch China und Indien in einen Versorgungsengpass laufen, wenn beide ihr Reaktorarsenal wie angekündigt ausbauen. Der in vielen Ländern diskutierte und von manchen Regierungen betriebene Zubau neuer Reaktoren würde die Probleme weiter verschärfen. Nach all dem ist klar: Weder die Ver- noch die Entsorgung der auf der Welt betriebenen Atomkraftwerke kann als dauerhaft gesichert gelten.
Weltweit sind heute 439 Atomreaktoren in Betrieb. Doch der Ausbau, vor allem in den westlichen Industriestaaten, stagniert zum Teil schon seit Jahrzehnten. Die OECD geht davon aus, dass sich daran bis 2030 wenig ändern wird. Weil sich ein Großteil der während der Kernenergiehochzeit der 70er und 80er des vergangenen Jahrhunderts errichteten Reaktoren seinem technischen Lebensende nähert, wird es zudem „praktisch unmöglich sein, die Zahl der Atomkraftwerke in den nächsten 20 Jahren konstant zu halten“, bemerkt die Fachzeitschrift „Nuclear Engeneering International“.2
Der zu erwartende Engpass verschärft sich noch durch folgendes Problem: Das Durchschnittsalter der Atommeiler liegt heute weltweit bei etwa 25 Jahren; die seit dem Beginn der Atomkraft abgeschalteten Meiler waren im Schnitt dagegen nur 23 Jahre alt. Geht man für die Zukunft optimistisch von einem durchschnittlichen Lebensalter von 40 Jahren aus, das bis heute weltweit nur eine handvoll Reaktoren erreicht hat, müssten in den kommenden zehn Jahren etwa 70 Meiler gebaut und in Betrieb genommen werden, allein um den Status quo zu stabilisieren – alle sieben bis acht Wochen einer. Im dann nachfolgenden Jahrzehnt müssten sogar fast 200 Meiler ans Netz gehen – alle 18 Tage einer.
Weltweit erhöhten sich die Stromkapazitäten seit der Jahrtausendwende um jährlich rund 150 000 Megawatt. Atomkraft hatte daran einen Anteil von gerade zwei Prozent. Durch eine nicht einmal am Horizont erkennbare Verdreifachung der weltweiten Kernkraftwerksleistung bis zum Jahr 2050 könnten rund fünf Mrd. Tonnen CO2 eingespart werden. 25 bis 40 Mrd. Tonnen CO2 müsste die Welt im Jahr 2050 aber einsparen, wenn man die Prognosen der Internationalen Energie Agentur (IEA) und die Forderungen der Klimaforscher des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) den Schätzungen zugrunde legt. Der bescheidene Beitrag, der durch einen beispiellosen Atomenergie-Ausbau erreicht werden könnte, wäre nicht nur ökonomisch teuer erkauft. Es würden auch in Entwicklungs- und Schwellenländern, in Krisen- und Kriegsregionen in großer Zahl neue Ziele für kriegerische und terroristische Angriffe geschaffen. Enorme Finanzmittel würden statt für die Armutsbekämpfung für die Atomkraftwerke selbst und den mit Großkraftwerksblöcken zwangsläufig verbundenen Aufbau einer zentralistischen Netzinfrastrukur eingesetzt.
Ambitionierte Ziele zur Eindämmung der Treibhausgase können jedoch, nach realistischen Abschätzungen, auch ohne den Ausbau der Atomenergie erreicht werden. Reduktionen um weltweit 40 bis 50 Mrd. Tonnen Kohlendioxid gegenüber dem derzeitigen Trend sind bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts möglich. Ein großer oder wachsender Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung kann sich für eine erfolgreiche Klimaschutzstrategie sogar als kontraproduktiv erweisen. Denn die fluktuierenden Erneuerbaren Energien Wind und Sonne benötigen ab einer bestimmten Ausbaustufe Kraftwerke mit einer flexiblen Leistungssteuerung, wie etwa moderne Gaskraftwerke, um die Leistungsschwankungen auszugleichen. Atomkraft als adäquates Mittel gegen den Klimawandel bleibt somit national und erst recht weltweit reine Illusion.
Billige Atomkraft: Wenn der Staat die Rechnung zahlt
Letztlich verbirgt sich hinter den Kampagnen für „saubere Kernkraft“ insbesondere in Deutschland nur ein einziges Interesse – das nach längeren Laufzeiten. Die Frage, ob die nukleare Stromproduktion einer Lizenz zum Gelddrucken gleichkommt oder zu einem Fass ohne Boden wird, entscheidet sich allein am Alter der Meiler: Produziert der Reaktor schon 20 Jahre zuverlässig Strom und tut dies weiterhin, trifft ohne Zweifel das erste zu. Muss das Atomkraftwerk erst gebaut werden, dann empfiehlt es sich, die Finger von einem solchen Projekt zu lassen – es sei denn, es gelingt, die immensen finanziellen Unwägbarkeiten auf Dritte abzuwälzen, beispielsweise auf den Staat.
Für Investoren, die heute vor der Entscheidung zum Ersatz- oder Neubau ihrer Kraftwerkskapazität stehen, gehören Atomkraftwerke ganz offensichtlich nicht zur ersten Wahl. Dafür spricht bereits die Empirie. In den USA haben die Reaktorbauer seit 1973 keine Bestellung mehr entgegengenommen, die später nicht wieder annulliert wurde. In Westeuropa warteten die Reaktorhersteller – außerhalb Frankreichs – bis 2004 ein Vierteljahrhundert auf einen Neubau-Auftrag. Derzeit existieren genau zwei Baustellen: Eine erneut in Frankreich (seit 2007) und eine im finnischen Olkiluoto (seit 2005). Für Framatome-ANP (zu 66 Prozent im Besitz des französischen Atomkonzerns Areva und zu 34 Prozent bei Siemens) war der finnische Reaktor Okiluoto die erste Bestellung überhaupt in etwa 15 Jahren.
Insgesamt waren Ende 2008 ausweislich der Statistiken der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA in Wien weltweit 39 Atomkraftwerke im Bau. Ein gutes Dutzend der Vorhaben dümpelt schon 18 bis 36 Jahre vor sich hin.3 Von einer Reihe von ihnen nimmt niemand mehr an, dass sie jemals Strom liefern werden – normalerweise nennt man so etwas Bauruinen. Damit stehen die Fakten in eindeutigem Gegensatz zur vielerorts besungenen „Renaissance“ der Atomkraft. Die verbleibenden Kraftwerksprojekte, mit deren Fertigstellung in den nächsten Jahren ernsthaft gerechnet werden kann, entstehen fast alle in Ostasien, also in einem nicht oder nur bedingt marktwirtschaftlichen Umfeld. Kurz: Die nukleare Auftragslage ist aller Renaissance-Rhetorik zum Trotz insgesamt niederschmetternd.
Befürworter einer Laufzeitverlängerung führen immer wieder Gründe der „ökonomischen Vernunft“ an. Und die gibt es in der Tat: Solange keine schweren Störfälle auftreten oder teure Reparaturen notwendig werden, kann Strom aus alten, abgeschriebenen Meilern der 1000-Megawatt-Klasse konkurrenzlos günstig produziert werden. Könnten die Meiler in Deutschland statt der im Ausstiegsvertrag ausgehandelten 32 Jahre schließlich 45 Jahre am Netz bleiben – das entspricht der durchschnittlichen Lebenszeit fossiler Großkraftwerke – ergäbe sich für die Branche ein hübscher Zusatzgewinn von etwa 30 Mrd. Euro. Solche Zahlen sind das einzig ehrliche Argument der Stromkonzerne – auch wenn sie meist andere Motive vorschieben.
Mit einer möglichen Renaissance der Atomenergie hat das derzeitige Geschacher allerdings nichts zu tun. Eher mit dem Gegenteil. Die Forderungen nach einer „Nachspielzeit“ belegen, dass die Atomkraftbetreiber aus ökonomischer Einsicht vor Investitionen in neue Atomkraftwerke zurückschrecken. Statt in neue nukleare oder nicht-nukleare Technologien zu investieren, zehren sie von der Substanz. Das damit unausweichlich verbundene Risiko ist für den einzelnen Manager leicht „kalkulierbar“: Er rechnet einfach nicht mit dem schweren Unfall ausgerechnet in einem Atomkraftwerk seines Unternehmens und ausgerechnet unter seiner Verantwortung. Darin liegt der Unterschied zu den Interessen der Allgemeinheit. Faktisch erhöhen Laufzeitverlängerungen das Katastrophenrisiko überproportional, weil die Meiler altern und störanfälliger werden, wie die Erfahrungen der letzten Jahre – etwa in Forsmark oder Brunsbüttel – zeigen.
Über die wahren Kosten einer neuen Generation von Atomkraftwerken herrscht Unsicherheit. Es gibt kaum verlässliche Daten. Die Zahlen stammen in aller Regel von den Herstellern, die Kraftwerke verkaufen wollen und daher eher zu niedrig als zu hoch kalkulieren. Nicht nur sicherheitstechnisch, auch finanztechnisch wird Atomkraft auf diese Weise zu einer Hochrisikotechnologie. So ist allenfalls noch Risikokapital mit einem Reaktorneubau anzulocken.
Der frühere EDF-Chef Francois Roussely bekannte vor wenigen Jahren im Zusammenhang mit dem Neubau von Prototypen des Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) – der jetzt in Finnland und Frankreich realisiert werden soll – es gehe nicht so sehr um Strom, sondern darum, „die europäische industrielle Kompetenz in diesem Bereich zu erhalten“4 . Der Auftrag an den französisch-deutschen Reaktorbauer Framatome-ANP, an der finnischen Ostseeküste die EPR-Pilotanlage zu errichten, kam schließlich vom Stromversorger TVO. Das Unternehmen gehörte zu 43 Prozent der öffentlichen Hand. Dass ein solcher Reaktor auch unter ganz normalen Wettbewerbsbedingungen eine Chance gehabt hätte, ist unwahrscheinlich. Die Finanzierung wurde durch eine Konstruktion ermöglicht, bei der die rund 60 Teilhaber im Gegenzug Abnahmegarantien für den später im Reaktor erzeugten Strom zu ungewöhnlich hohen Preisen zeichneten. Da die Baukosten des Reaktors mittlerweile von 3,2 Mrd. Euro (2005) auf 4,5 Mrd. (2008) emporgeschnellt sind, wird das Geschäft wegen des mit dem finnischen Kunden vorab vertraglich vereinbarten Fixpreises für Framatome-ANP zum ökonomischen Alptraum. Der Ruf nach dem Staat wird nicht lange auf sich warten lassen. Wie schon im Vorfeld, bei der Absicherung der Finanzierung: Bei dieser spielte die Bayerische Landesbank eine wichtige Rolle. Sie ist Partner eines internationalen Konsortiums, das den finnischen EPR mit einem zinsverbilligten Kredit in Höhe von 1,95 Mrd. Euro aufs Gleis brachte.
Ohne staatliche Unterstützungsleistungen wäre die Entscheidung für den finnischen Reaktor anders ausgefallen. Das gilt auch für andere Länder, wo potentielle Investoren immer dann, wenn die Politik auf Atomkraft setzt, staatliche Hilfe beanspruchen. Der Neubau von Atomkraftwerken ist in liberalisierten Strommärkten bis heute nicht konkurrenzfähig. Trotzdem werden weiter Meiler gebaut, entweder weil offene und verdeckte Subventionen in erheblicher Höhe zugeschossen werden oder weil die Nukleartechnologie Teil der Staatsdoktrin ist. Letzteres gilt für Länder wie Frankreich und Japan, für China oder Indien – aber auch für Pakistan und Nordkorea.
Ein halbes Jahrhundert nach dem mit Milliardensubventionen gezündeten, kommerziellen Start der Atomenergie verlangen, benötigen und erhalten ihre Protagonisten für den Neustart weiter massive staatliche Hilfen. Gefordert und betrieben wird dieses außergewöhnliche Vorgehen erstaunlicherweise besonders von Politikern, die ansonsten in der Energiepolitik gar nicht laut genug nach „mehr Markt“ rufen können. Es sind dieselben, die in vielen Industriestaaten mit Argumenten aus der reinen Wirtschaftslehre gegen Markteinführungshilfen für die Erneuerbaren Energien aus Sonne, Wind, Wasser, Biomasse oder Geothermie zu Felde ziehen. Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: Atomenergie hat ihre Zukunft hinter sich, die Erneuerbaren haben sie vor sich.
Fest steht demnach: Bis heute gibt es keine „selbsttragende“ Renaissance der Atomenergie. Was es dagegen gibt, ist eine Renaissance der Ankündigungen über die Atomenergie. Es gibt die Wiederbelebung der politisch-gesellschaftlichen Debatte von interessierter Seite; ihr Ausgang ist ungewiss. Ein Kraftwerksprojekt in Finnland und eines in Frankreich beweisen allerdings (noch) nichts – und schon gar nicht die angebliche Renaissance der Kernkraft. Wer heute neue Atomkraftwerke bauen will, braucht den Staat fast so sehr wie die Pioniere der Atomenergie in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Es klingt paradox: Die Markteinführung der Kernenergie gelang seinerzeit nur deshalb, weil es einen Strommarkt nicht gab, der sie hätte unwirtschaftlich machen können. Sie wurde von staatseigenen oder staatsnahen, jedenfalls monopolartigen Unternehmen getragen. In den meisten Industrieländern war es denn auch der Staat, der, anfangs auch aus offen oder verdeckt militärischen Motiven, bei der Einführung der Atomenergie den Takt bestimmte. Die öffentliche Hand übernahm die immensen Kosten für Forschung, Entwicklung und Markteinführung der neuen Technologie entweder direkt selbst, oder sie stellte über ihren Einfluss auf die Strompreisgestaltung der Elektrizitätsversorger deren Überwälzung auf die Verbraucher sicher.
Eine unvoreingenommene Neubewertung aller Aspekte der Atomenergie führt auch heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Katastrophenrisiken, die die Atomenergie schon vor 30 Jahren zur umstrittensten Form der Stromerzeugung gemacht haben, sind nicht verschwunden. Hinzu gekommen sind, insbesondere in Folge des 11. September 2001, neue terroristische Gefahren. Diese schließen eine Ausweitung dieser Technologie in unsichere Weltregionen kategorisch aus.
Die Atomenergie kann, aller anderslautenden Propaganda zum Trotz, auch das Klimaproblem nicht lösen. Selbst eine Verdreifachung der globalen Nuklearkapazität bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts würde nur einen bescheidenen Beitrag zur Klimaentlastung leisten. Sie wäre wegen der immensen Kosten und einer Vervielfachung der mit ihr verbundenen Risiken ebenso unrealistisch wie unverantwortlich.
Der behauptete Zielkonflikt „Klimaschutz oder Atomausstieg“ ist somit – abgesehen von regionalen und zeitlich befristeten Sonderfällen – eine aus den Interessen der Atomenergiewirtschaft geborene Chimäre. Unter dem Eindruck langfristig steigender Energiepreise und in Erwartung harter Klimaschutzverpflichtungen bringt die Politik die Atomenergie jedoch selbst zurück ins Spiel. Dabei hat bereits die Vergangenheit eindeutig gezeigt, dass die Energieerzeuger die erhofften zusätzlichen Milliarden gerade nicht zur Dämpfung der Strompreise einsetzen werden, sondern für die Fortsetzung ihrer europa- und weltweiten Einkaufstouren. Insgesamt ist bei der herrschenden Diskussion um Laufzeitverlängerung offensichtlich auch der Gedanke verlorengegangen, dass die Stromkonzerne im Jahr 2000 das Ausstiegsversprechen nicht nur der rot-grünen Regierung gegeben haben, sondern einer seit mehr als 20 Jahren atomkritischen Bevölkerungsmehrheit. Man kann nur hoffen, dass sich diese auch weiterhin laut und vernehmlich zu Wort melden wird. Nicht nur in Gorleben.
1 Zitiert nach Bernhard Fischer, Lothar Hahn u.a.: Der Atommüll-Report, Hamburg 1989, S. 77.
2 „Nuclear Engineering International“, 6/2005.
3 Der Bau des US-amerikanischen Druckwasserreaktors Watts Bar II – Baubeginn 1972 – wurde 2007 wieder aufgenommen; es handelt sich nach acht Jahren Atomkraftförderpolitik unter George W. Bush um das einzig vorzeigbare Projekt in den USA .
4 Francois Roussely in einer Rede am 23. November 2003 vor dem Wirtschafts- und Umweltausschuss der französischen Nationalversammlung; zit. nach Mycle Schneider: Der EPR aus französischer Sicht. Memo im Auftrag des BMU, S. 5.
(aus: »Blätter« 12/2008, Seite 37-44)
Themen: Atom und Technologiepolitik
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