Gasmillionen schießen Tore

Alles rund um den weltweiten Fußball.

Gasmillionen schießen Tore

Beitragvon thornay » 31.10.2010, 11:08

Im Stadion um die besten Plätze rangeln? Das haben Fußballfans in Russland nicht nötig. Auf halbleeren Rängen sehnt sich SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent Benjamin Bidder nach der Bundesliga - und entdeckt die spannenden Szenen abseits des Spielfeldes.

Vor einiger Zeit habe ich mir im Stadion das Spiel Dynamo Moskau gegen Terek Grosny angeschaut. Eine interessante Begegnung: Auf der einen Seite der Club aus der tschetschenischen Hauptstadt, in der noch vor ein paar Jahren Rebellen gegen Moskaus Truppen kämpften, auf der anderen Seite Dynamo, zu Sowjetzeiten der Club des sowjetischen Geheimdienstes KGB und heute Arbeitgeber von Kevin Kuranyi.

Hundert Tschetschenen waren mitgereist, ansonsten blieb die Gästetribüne gähnend leer. Der Rest des Stadions auch: Nur 5000 Zuschauer wollten das Spiel sehen, und das, obwohl die russische Liga seit Jahren Millionensummen in neue Spieler steckt. Allein in diesem Jahr investierten die 16 Mannschaften mehr als 100 Millionen Euro.

Ich vermisse den Fußball in Deutschland. In Russland wird er zu einer Randsportart - selbst Moskauer Traditionsclubs wie Dynamo oder ZSKA tragen ihre Heimspiele im Vorort Chimki aus, 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die "Chimki Arena" ist ein Schmuckstück, sie ähnelt dem Carl-Benz-Stadion des SV Waldhof Mannheim, der dort zuletzt in der Oberliga einen Sieg über den FSV Hollenbach feierte.

Wo sind Spannung, Stimmung und Spektakel?

Spartak Moskau spielt im Moskauer Olympiastadion mit 80.000 Plätzen, aber selbst beim Hauptstadtderby gegen Lokomotive blieb fast jeder zweite Platz leer.

Ich vermisse die deutschen Stadien.

Es gibt kein Bier bei den Spielen in Russland, aber damit kann ich leben. Aber es gibt auch sonst nichts: In der Pause der Partie Dynamo-Grosny haben wir uns für den letzten Sandwich entschieden, der in der Vitrine des Haupttribüne lag. Das St. Petersburger Petrowski Stadion hat ebenfalls nur 20.000 Plätze, kein Dach, und als Verpflegung gibt es pappige Pizza und Chips.

Ich vermisse die Bundesliga. Ich erwarte nicht viel. Ich bin Fan von Eintracht Frankfurt, ich bin Kummer gewohnt. Aber ich vermisse Spannung, Stimmung und Spektakel.

In Deutschland verliert die Mannschaft, die von Russlands Staatskonzern Gazprom mit Millionen gepäppelt wird, auch mal ein Spiel. Oder gleich alle, so wie Schalke im Moment. In Russland eilt Zenit St. Petersburg dagegen der Meisterschaft entgegen. Die Saison neigt sich dem Ende zu, aber die Petersburger haben noch immer kein einziges Spiel verloren, dank der Gasmillionen.

Selbst der Sportminister schämt sich für solchen Fußball

Manchmal kommt es auch im russischen Fußball zu denkwürdigen Begegnungen. Vor ein paar Wochen spielten zwei Provinzteams gegeneinander, Amkar aus Perm gegen Rostow. Rostow kommt aus dem russischen Süden und spielt keine schlechte Saison, mit Glück wäre ein Startplatz im Europacup machbar. Im Schnitt geben die Spieler von Rostow 14 Torschüsse pro Spiel ab. Nur gegen Amkar schießt Rostow nur einmal aufs Tor. Abstiegskandidat Amkar siegt 1:0. Es gibt Gerüchte, wonach Rostow "Schulden hatte aus der vergangenen Saison", als das Team selbst im Abstiegskampf steckte - und Amkar die Punkte lieferte.

Verschobene Spiele gehören seit Jahren zum russischen Ligabetrieb. Als im vergangenen Jahr die Mannschaft aus Samara allzu höflich Terek Grosny zum Toreschießen einlud, sagte selbst Sportminister Witali Mutko, dass er sich für solchen Fußball schämt.

Anders als im Falle des in Deutschland bekannt gewordenen Wett- und Schiedsrichterskandals um Robert Hoyzer wurde nie ermittelt. "Es gibt keine manipulierten Spiele", zog die russische Ausgabe des Magazins "Newsweek" in der vergangenen Woche sarkastisch Bilanz. "Man nennt sie nur 'rätselhaft'." Der Trainer, der 2008 Manipulationen von "der obersten bis zur untersten Liga" enthüllte, wurde wegen übler Nachrede zu einer Strafe von 2500 Euro verklagt.

Trotz Führungstreffer gegen Dynamo unterliegt Grosny schlussendlich in Moskau, auch wegen eines Tors von Kuranyi. Die mitgereisten Fans schwenkten erst frenetisch Fahnen mit dem Konterfei des tschetschenischen Republik-Chefs Ramsan Kadyrow. Von dem ehemaligen Milizenführer heißt es, er könnte in einen Mord an einem Exil-Tschetschenen in Wien 2009 verwickelt sein.

Nach dem Schlusspfiff in der Mixed Zone: Vorn gibt Kuranyi russischen Journalisten Auskunft über seine ersten Wochen in Moskau. Ja, er habe sich gut eingelebt. Nein, er habe keinen Kulturschock, er sei ja multikulturell.

Hinter ihm eilen Tschetschenen vorbei, bärtige Männer mit grimmigem Blick. Die unzufriedenen Fans marschieren direkt von der Tribüne in die Kabine der Mannschaft. Manchmal hat Fußball in Russland eine ganz eigene Dramatik. Leider meist nur abseits des Platzes.


Quelle: Spiegel-Online (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0 ... 66,00.html)

:)

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