Fußballkrawalle der zwanziger Jahre

Heute auf Spiegel-Online entdeckt:
"Der Fanatismus war unberechenbar"
Fans schlugen auf Spieler ein, Club-Funktionäre prügelten mit: In den Zwanzigern eskalierten Fußballspiele in Deutschland regelmäßig. Der Historiker Rudolf Oswald erklärt, weshalb Gewalt und der Sport seit damals untrennbar verbunden sind - und wie Mannheim wegen Sepp Herberger zur Krawall-Hochburg wurde.
einestages: Herr Oswald, seit wann gibt es Fußballrandale in Deutschland?
Oswald: Es fing in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg an.
einestages: Warum genau da?
Oswald: Der Fußball begann damals, zum Massenphänomen zu werden. Und dieser Aufschwung brachte es mit sich, dass die oft seit Jahrzehnten bestehenden Konflikte zwischen Stadt und Vorstadt oder Vorstadt und Dorf nun auf den Sportplätzen ausgetragen wurden. Wenn Clubs aus einem proletarischen Vorort und der reichen Innenstadt aufeinandertrafen, hatte die Partie grundsätzlich ein großes Konfliktpotential. Es wurde die lokale Ehre verteidigt, oft mit Mitteln des Landfriedensbruchs.
einestages: Wie genau sah das aus?
Oswald: Die Ausschreitungen konnten in den zwanziger Jahren blutig und exzessiv sein. Es kam oft zu Platzstürmen und Spielabbrüchen - teilweise bei Derbys zwischen Vereinen, die heute verschwunden sind oder in der damaligen Form nicht mehr existieren, etwa im württembergischen Raum zwischen Union Böckingen und dem VfR Heilbronn. Wurden die Erwartungen einiger Fans nicht erfüllt, verlor die eigene Mannschaft also ein mit besonderer Bedeutung aufgeladenes Spiel, mussten eben die Gegner büßen: Zuschauer und Spieler des anderen Vereins oder der Schiedsrichter.
einestages: Gab es Krawall-Hochburgen?
Oswald: Mannheim gehörte auf jeden Fall dazu. Halbwegs bekannt sind Berichte von den dortigen Ausschreitungen im Jahr 1922, weil dabei der spätere deutsche Nationaltrainer Sepp Herberger eine Rolle spielte. Hintergrund der Randale war der Wechsel Herbergers vom SV Waldhof Mannheim zum Nachbarn VfR. Herberger war ein Jahr gesperrt worden, wegen eines Verstoßes gegen die Amateurstatuten. Beim ersten Derby, das er für den VfR bestritt…
einestages: …den bei den Waldhöfern verhassten Verein der Gutbetuchten…
Oswald: …rächten sich erstere für das Verhalten des vermeintlichen Verräters Herberger. Sie stürmten den Platz, verletzten dabei einige Spieler schwer und belagerten später die VfR-Kabine. Bei einem Spiel zwischen dem VfR und Phönix, einem heute außerhalb Mannheims unbekannten Club, gab es ähnliche Ausschreitungen, weil Herberger, bevor er zum VfR wechselte, einen Vertrag bei Phönix unterschrieben hatte - ohne dort jemals gegen den Ball getreten zu haben. Die Presse berichtete damals, dass einige VfR-Kicker nach den Ausschreitungen mit dem Fußballspielen aufhören wollten.
einestages: Die Schilderungen erinnern an die aktuelle Situation: Vereinzelt werden Spieler massiv bedroht, etwa der bis vor kurzem für den 1. FC Köln spielende Kevin Pezzoni, den Fans des Clubs gewissermaßen aus der Stadt mobbten.
Oswald: Der Fall Pezzoni ist schlimm und tragisch für den Spieler. Aber wenn mit Blick auf die jüngsten Ausschreitungen in der Bundesliga und auch in den unteren Ligen von einer Eskalation die Rede ist, skandalisiert das die Fans meiner Meinung nach zu Unrecht. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat die Brutalität der Zuschauergewalt eher abgenommen.
einestages: Waren jene Waldhof-Fans, die aus Wut über Herberger den Platz stürmten, Vorläufer der Hooligans?
Oswald: Nein, der Krawall der zwanziger Jahre ist unorganisiert, immer vom Geschehen auf dem Platz abhängig und immer an das Stadion gebunden, das unterscheidet die Randale vom Hooliganismus späterer Jahrzehnte. Die Zuschauer wurden aber teilweise durch Artikel in den Vereinszeitungen aufgestachelt. Das waren regelrechte Kampforgane. Die agitierten auf eine Art, die sich heute keine Vereinszeitung mehr leisten könnte.
einestages: Gab es dort Aufrufe zur Gewalt?
Oswald: Zwischen den Zeilen. Üblich war es, den Gegner auf eine Weise zu beschimpfen, gegen die man auch einen Anwalt hätte in Stellung bringen können. Es passte aber in die Zeit. Denn ein weiteres Charakteristikum des damaligen Fanatismus war, dass es eigentlich keine Trennung gab zwischen der Funktionärsebene eines Vereins und der Fanbasis - während sich heute die Fankultur ja oft in Opposition zu den eigenen Vereinsfunktionären befindet.
einestages: Die Funktionäre haben bei den Ausschreitungen mitgemischt?
Oswald: Und wie. Ein Vereinsvorsitzender war spätestens zu Beginn der zwanziger Jahre, als sich in den industriellen Ballungszentren diese spezielle Form des Vereinsfanatismus formierte, integraler Bestandteil dieses Milieus. Auf der einen Seite fanden die Arbeiterschichten Anschluss über den lokalen Verein, sie konstruierten sich Identität, andererseits konnten aber auch die bürgerlichen Vereinsvorsitzenden, die im Berufsleben als Kaufleute, Ärzte und so weiter tätig waren, an dieser Identität partizipieren.
einestages: Wie meinen Sie das?
Oswald: Wir haben beispielsweise in den zwanziger Jahren das Phänomen, dass bei Ausschreitungen Vertreter des lokalen Bürgertums, die exponierte Stellungen in den Vereinen hatten, maßgebliche Rollen spielten. Das wäre ungefähr so, als würde heute im VIP-Bereich eines Stadions Randale ausbrechen. Die lokale Identität überwog im Zweifelsfall alles andere.
einestages: Wurden gegen die gewalttätigen Funktionäre Sanktionen ausgesprochen?
Oswald: Es kam vor, dass solche Vereinsvertreter bis zu zwei Jahre kein Amt in einem Club ausüben durften.
einestages: Möglich wurden solche Eskalationen in den zwanziger Jahren auch aufgrund schlechter Sicherheitsvorkehrungen.
Oswald: Das stimmt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war es noch üblich, dass die Zuschauer bis an den Spielfeldrand standen. Wie in der Vorkriegszeit gab es kaum Abgrenzungen durch Zäune und Ähnliches. Auch nach außen waren die Plätze kaum geschützt. Das änderte sich erst peu à peu.
einestages: Hatte diese Art des Vereinsfanatismus, ohne ihn jetzt glorifizieren zu wollen, einen gewissen subversiven Charakter?
Oswald: Absolut. Dieser Vereinsfanatismus war absolut unberechenbar. Wenn ein Spiel zum Beispiel wegen vermeintlich falscher Schiedsrichterentscheidungen kippte, musste in den dreißiger Jahren auch ein Regime wie das nationalsozialistische mit dem Schlimmsten rechnen. Das ist ja auch einige Male passiert. 1935 kam es in Großmühlingen bei Magdeburg sogar zu einem tödlichen Vorfall, als ein Zuschauer einen Spieler der Gastmannschaft mit einer Abgrenzfahne und einer Zaunlatte so schwer verletzte, dass der Fußballer später starb.
einestages: Heute beklagen sich Vertreter von Vereinen und des DFB darüber, dass Gewalttäter den Fußball missbrauchten. Ihre Schilderungen klingen dagegen so, als sei die Gewalt ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Massensports Fußball.
Oswald: So lange Fantum zwangsläufig starke Identifikation mit einem Verein bedeutet, wird sich das Phänomen der Gewalt wohl nicht aus dem Fußball verbannen lassen. Ich denke, das ist ein aussichtsloses Unterfangen.
Das Interview führte René Martens
Rudolf Oswald, Jahrgang 1967, ist Zeithistoriker, er hat sich ausführlich mit dem historischen Alltag in Vereinsmilieus und der Geschichte der Fußballfankultur befasst. Seine Dissertation erschien 2008 unter dem Titel "Fußball-Volksgemeinschaft. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964" (Campus Verlag).
"Der Fanatismus war unberechenbar"
Fans schlugen auf Spieler ein, Club-Funktionäre prügelten mit: In den Zwanzigern eskalierten Fußballspiele in Deutschland regelmäßig. Der Historiker Rudolf Oswald erklärt, weshalb Gewalt und der Sport seit damals untrennbar verbunden sind - und wie Mannheim wegen Sepp Herberger zur Krawall-Hochburg wurde.
einestages: Herr Oswald, seit wann gibt es Fußballrandale in Deutschland?
Oswald: Es fing in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg an.
einestages: Warum genau da?
Oswald: Der Fußball begann damals, zum Massenphänomen zu werden. Und dieser Aufschwung brachte es mit sich, dass die oft seit Jahrzehnten bestehenden Konflikte zwischen Stadt und Vorstadt oder Vorstadt und Dorf nun auf den Sportplätzen ausgetragen wurden. Wenn Clubs aus einem proletarischen Vorort und der reichen Innenstadt aufeinandertrafen, hatte die Partie grundsätzlich ein großes Konfliktpotential. Es wurde die lokale Ehre verteidigt, oft mit Mitteln des Landfriedensbruchs.
einestages: Wie genau sah das aus?
Oswald: Die Ausschreitungen konnten in den zwanziger Jahren blutig und exzessiv sein. Es kam oft zu Platzstürmen und Spielabbrüchen - teilweise bei Derbys zwischen Vereinen, die heute verschwunden sind oder in der damaligen Form nicht mehr existieren, etwa im württembergischen Raum zwischen Union Böckingen und dem VfR Heilbronn. Wurden die Erwartungen einiger Fans nicht erfüllt, verlor die eigene Mannschaft also ein mit besonderer Bedeutung aufgeladenes Spiel, mussten eben die Gegner büßen: Zuschauer und Spieler des anderen Vereins oder der Schiedsrichter.
einestages: Gab es Krawall-Hochburgen?
Oswald: Mannheim gehörte auf jeden Fall dazu. Halbwegs bekannt sind Berichte von den dortigen Ausschreitungen im Jahr 1922, weil dabei der spätere deutsche Nationaltrainer Sepp Herberger eine Rolle spielte. Hintergrund der Randale war der Wechsel Herbergers vom SV Waldhof Mannheim zum Nachbarn VfR. Herberger war ein Jahr gesperrt worden, wegen eines Verstoßes gegen die Amateurstatuten. Beim ersten Derby, das er für den VfR bestritt…
einestages: …den bei den Waldhöfern verhassten Verein der Gutbetuchten…
Oswald: …rächten sich erstere für das Verhalten des vermeintlichen Verräters Herberger. Sie stürmten den Platz, verletzten dabei einige Spieler schwer und belagerten später die VfR-Kabine. Bei einem Spiel zwischen dem VfR und Phönix, einem heute außerhalb Mannheims unbekannten Club, gab es ähnliche Ausschreitungen, weil Herberger, bevor er zum VfR wechselte, einen Vertrag bei Phönix unterschrieben hatte - ohne dort jemals gegen den Ball getreten zu haben. Die Presse berichtete damals, dass einige VfR-Kicker nach den Ausschreitungen mit dem Fußballspielen aufhören wollten.
einestages: Die Schilderungen erinnern an die aktuelle Situation: Vereinzelt werden Spieler massiv bedroht, etwa der bis vor kurzem für den 1. FC Köln spielende Kevin Pezzoni, den Fans des Clubs gewissermaßen aus der Stadt mobbten.
Oswald: Der Fall Pezzoni ist schlimm und tragisch für den Spieler. Aber wenn mit Blick auf die jüngsten Ausschreitungen in der Bundesliga und auch in den unteren Ligen von einer Eskalation die Rede ist, skandalisiert das die Fans meiner Meinung nach zu Unrecht. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat die Brutalität der Zuschauergewalt eher abgenommen.
einestages: Waren jene Waldhof-Fans, die aus Wut über Herberger den Platz stürmten, Vorläufer der Hooligans?
Oswald: Nein, der Krawall der zwanziger Jahre ist unorganisiert, immer vom Geschehen auf dem Platz abhängig und immer an das Stadion gebunden, das unterscheidet die Randale vom Hooliganismus späterer Jahrzehnte. Die Zuschauer wurden aber teilweise durch Artikel in den Vereinszeitungen aufgestachelt. Das waren regelrechte Kampforgane. Die agitierten auf eine Art, die sich heute keine Vereinszeitung mehr leisten könnte.
einestages: Gab es dort Aufrufe zur Gewalt?
Oswald: Zwischen den Zeilen. Üblich war es, den Gegner auf eine Weise zu beschimpfen, gegen die man auch einen Anwalt hätte in Stellung bringen können. Es passte aber in die Zeit. Denn ein weiteres Charakteristikum des damaligen Fanatismus war, dass es eigentlich keine Trennung gab zwischen der Funktionärsebene eines Vereins und der Fanbasis - während sich heute die Fankultur ja oft in Opposition zu den eigenen Vereinsfunktionären befindet.
einestages: Die Funktionäre haben bei den Ausschreitungen mitgemischt?
Oswald: Und wie. Ein Vereinsvorsitzender war spätestens zu Beginn der zwanziger Jahre, als sich in den industriellen Ballungszentren diese spezielle Form des Vereinsfanatismus formierte, integraler Bestandteil dieses Milieus. Auf der einen Seite fanden die Arbeiterschichten Anschluss über den lokalen Verein, sie konstruierten sich Identität, andererseits konnten aber auch die bürgerlichen Vereinsvorsitzenden, die im Berufsleben als Kaufleute, Ärzte und so weiter tätig waren, an dieser Identität partizipieren.
einestages: Wie meinen Sie das?
Oswald: Wir haben beispielsweise in den zwanziger Jahren das Phänomen, dass bei Ausschreitungen Vertreter des lokalen Bürgertums, die exponierte Stellungen in den Vereinen hatten, maßgebliche Rollen spielten. Das wäre ungefähr so, als würde heute im VIP-Bereich eines Stadions Randale ausbrechen. Die lokale Identität überwog im Zweifelsfall alles andere.
einestages: Wurden gegen die gewalttätigen Funktionäre Sanktionen ausgesprochen?
Oswald: Es kam vor, dass solche Vereinsvertreter bis zu zwei Jahre kein Amt in einem Club ausüben durften.
einestages: Möglich wurden solche Eskalationen in den zwanziger Jahren auch aufgrund schlechter Sicherheitsvorkehrungen.
Oswald: Das stimmt. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war es noch üblich, dass die Zuschauer bis an den Spielfeldrand standen. Wie in der Vorkriegszeit gab es kaum Abgrenzungen durch Zäune und Ähnliches. Auch nach außen waren die Plätze kaum geschützt. Das änderte sich erst peu à peu.
einestages: Hatte diese Art des Vereinsfanatismus, ohne ihn jetzt glorifizieren zu wollen, einen gewissen subversiven Charakter?
Oswald: Absolut. Dieser Vereinsfanatismus war absolut unberechenbar. Wenn ein Spiel zum Beispiel wegen vermeintlich falscher Schiedsrichterentscheidungen kippte, musste in den dreißiger Jahren auch ein Regime wie das nationalsozialistische mit dem Schlimmsten rechnen. Das ist ja auch einige Male passiert. 1935 kam es in Großmühlingen bei Magdeburg sogar zu einem tödlichen Vorfall, als ein Zuschauer einen Spieler der Gastmannschaft mit einer Abgrenzfahne und einer Zaunlatte so schwer verletzte, dass der Fußballer später starb.
einestages: Heute beklagen sich Vertreter von Vereinen und des DFB darüber, dass Gewalttäter den Fußball missbrauchten. Ihre Schilderungen klingen dagegen so, als sei die Gewalt ein nicht wegzudenkender Bestandteil des Massensports Fußball.
Oswald: So lange Fantum zwangsläufig starke Identifikation mit einem Verein bedeutet, wird sich das Phänomen der Gewalt wohl nicht aus dem Fußball verbannen lassen. Ich denke, das ist ein aussichtsloses Unterfangen.
Das Interview führte René Martens
Rudolf Oswald, Jahrgang 1967, ist Zeithistoriker, er hat sich ausführlich mit dem historischen Alltag in Vereinsmilieus und der Geschichte der Fußballfankultur befasst. Seine Dissertation erschien 2008 unter dem Titel "Fußball-Volksgemeinschaft. Ideologie, Politik und Fanatismus im deutschen Fußball 1919-1964" (Campus Verlag).